Nein, sang- und klanglos zu verschwinden ist nicht seine Art. Unser langjähriger Bus-Tester Wolfgang Tschakert verabschiedet sich gebührend mit einem besonderen Fahrbericht, Bus und Fahrer sind gleich alt. Nehmen Sie bitte Platz und begleiten Sie uns auf dieser Zeitreise.
Bekannt gemacht haben wir uns schon vor etlichen Jahren. Und immer dann, wenn die Mercedes-Leute in Mannheim Omnibusneuheiten gezeigt haben, haben wir uns im Abholcenter insgeheim gegrüßt. Da stand er, der O 6600 H mit großer Bereifung, mit rundlicher Gestalt, aber langen Seiten. Formatmäßig passt er mit gut 11 Meter Länge schon fast in die Moderne, er trägt seinen Motor bereits im Heck (deshalb das H in der Typenbezeichnung) und nicht, wie damals üblich, noch unter einer riesigen Motorhaube.
Endlich war es auch soweit
Direkt am Hauptbahnhof stand er, frisch gewaschen und gewienert für die Bilder. Und natürlich versehen mit technischer Durchsicht und mit frischem Öl für die Aggregate, damit auch gewiss nichts schief geht. Die Ehrfurcht vor dem Start war groß, Sachverständige schätzen den Wert des O 6600 H heute auf rund eine Million Euro. Klar, dass man sich vor den ersten Metern erstmal zur Bedienung schlau macht. Zuerst ein Rundgang ums Fahrzeug, dann eine kleine Einweisung. Und fürs nähere Kennenlernen noch eine Platzrunde am Bahnhof, nur wenige Meter. Schließlich funktionieren Lenkung, Pedale und Bremsen ganz anders als bei modernen Fahrzeugen, ich bin vorgewarnt. Immerhin überzeugen die Sichtverhältnisse des Frontlenkers, der vorn wegen des Heckmotors auch bequeme Einstiegsverhältnisse bietet. Unser Mercedes besitzt noch Schlagtüren, doch man konnte den O 6600 H schon mit pneumatischen Falttüren bestellen. Mit Dachrand-Verglasung und bequemen kunstleder-gepolsterten Zweierbänken wurde unser Testfahrzeug wohl gern für Ausflüge genutzt. Aber nicht allzu oft, der Frontlenker wurde nicht sonderlich hart hergenommen. Der Pullmann-Mercedes war so gut wie immer in Werksbesitz, bei seiner Erstzulassung 1966 wurde der O 6600 H längst nicht mehr gebaut. Von 1951 bis 1959 nur dauerte sein Produktleben, immerhin 350 mal wurde der O 6600 H gebaut. Die meisten davon gingen nach Argentinien, ab 1955 wurde er als O 320 H typisiert.
Innovativ: Elektromechanisch schalten
In Deutschland hatte dieser Mercedes-Bus nur eine kurze Karriere, vielleicht lag es am exotischen Antriebsstrang mit dem modernen Media-Getriebe (von ZF). Wenn er funktionierte, war er ein Segen fürs Fahrpersonal, denn das Sechsgang-Getriebe von ZF ließ sich mit einem kleinen Hebelchen rechts an der Lenksäule elektromechanisch schalten. Und nicht mit einem damals üblichen beinahe meterlangen Schaltschwengel, der den Fahrer in den großen Gängen fast aus dem Sitz zwang.
Bei einem 70 Jahre alten Omnibus ist nichts selbstverständlich, was wir heute mit Omnibusfahren verbinden – abgesehen davon, dass das Lenkrad noch an der gleichen Stelle sitzt und das Gaspedal rechts unten. Die Bremsen, die Schaltung, auch die Sitzposition, alles wirkt etwas fremd. Es sei denn, man hat noch eigene Erinnerungen an die Zeit, als Adenauer deutscher Bundeskanzler war und Hildegard Knef die Sünderin im Kino. Viele Marken aus dieser Zeit kennt heute keiner mehr. Wie die Saba-Radios und Röhrenfernseher von Nordmende, auch viele Omnibushersteller dieser Zeit mit einst klangvollen Namen (zum Beispiel Pekol, Emmelmann, Graaf, Südwerke Krupp, Ludewig, in Österreich Steyr oder ÖAF) sind vom Markt verschwunden. Gewinner der technischen Entwicklung und der damit folgenden Konsolidierung des Marktes waren die großen Bus-Anbieter von heute.
Mag sein, dass für Mercedes-Benz der Durchbruch mit dem O 6600 H in den 50ern begann. Es ging zügig voran, Daimler-Benz stieg erst 1949 wieder in die Omnibus-Produktion ein. Das Leiterrahmen-Fahrgestell unseres Omnibusses stammte aus dem Lkw-Werk Gaggenau (das riesige Mercedes-Werk in Wörth war noch nicht mal in Planung), der 45-sitzige Aufbau wurde aber bereits in Mannheim, dem späteren Omnibus-Hauptwerk gefertigt. Der neue Mercedes-Bus als Trendsetter hatte erstmals einen Heckmotor, der platzsparend quer installiert wurde. Deshalb brauchte es auch einen Winkeltrieb und eine gewinkelte Kardanwelle. Dieses Antriebskonzept stammt aus den USA, es wurde von Dwight Austin bereits in den 30er-Jahren serienreif entwickelt. Der gleiche Ingenieur war es übrigens, der schon 1932 unter der Bezeichnung „Nite Coach“ die ersten Reisedoppeldecker baute.
Damals noch State of the Art: Der Vorkammerdiesel
Wie mag es in den wilden Fünfzigern auf dem Betriebshof zugegangen sein? Los ging´s frühmorgens nach zwei Tassen dünnem Bohnenkaffee und den „Capri-Fischern“ aus dem Radio, zuerst noch der Rundgang ums Fahrzeug und das Klopfen an den Reifen. Dann der Blick unter die Motorklappe, den Ölmessstab ziehen, ein Blick auf die Kühlerfüllung darf nicht fehlen. Damals kennt jeder Buschauffeur die Diesel-Gedenkminute, den Moment des Vorglühens als letzten ruhigen Moment vor der Ausfahrt. Wenn dann der Anlasser dreht, kehrt Leben in den Mercedes-Glaspalast. Der Vorkammer-Sechszylinder schüttelt sich die letzte Kälte aus den Gliedern und klingt bei den ersten Zündungen so hart wie Schmiedehämmer, die auf einen Amboss einschlagen. Im zweiten Gang kann angefahren werden, die erste Herausforderung des Gangwechsels ist kurz darauf bestanden. Eigentlich ganz einfach: Mit dem Hebelchen rechts am Lenkrad den nächsten Gang vorwählen, mit dem Tritt aufs Kupplungspedal rückt der dann ein. Allerdings verlangt das stehende Pedal zum Niederdrücken gewaltige Kräfte und zum Einkuppeln viel Feingefühl, was ja nicht so einfach ist. Es ruckelt schon ein bisschen, so richtig omnibusfein fahren verlangt nach Übung. Am Lenkrad will mit Nachdruck gedreht werden, mit einer Hand schiebend, mit der anderen ziehend, so geht es in die erste Kurve. Zu der Zeit hatte der Omnibusfahrer noch harte Fäuste zum Zupacken und kräftige Oberarme. Die Anweisung meines Lkw-Fahrlehrers, nie übergreifend zu lenken, weiß ich jetzt einzuordnen. Auch eine gut entwickelte Beinmuskulatur verlangt der O 6600 H, neben der Kupplung verlangt auch die Bremsplatte nach einem kräftigen Tritt. Nach wenigen Metern gleich die erste enge Kurve, die pneumatischen Trommelbremsen packen erstaunlich rüstig zu. „Rechtzeitig vor der Kurve den passenden Gang einlegen“, höre ich meinen Fahrlehrer wieder sagen, es ruckt ein wenig, dann konzentriere ich mich auf die Kurvenfahrt. Zum Kurvenausgang hin zurücklenken, sonst fährt der schöne Frontlenker-Mercedes wegen fehlender Rückstellkräfte weiter im Kreis. Um die Seitenneigung des Aufbaus mache ich mir keine Gedanken, die straffen Blattfedern halten den 14-Tonner stets in der Waage. Aber alle an Bord wissen genau, wie es um den Straßenzustand steht.
Ein Radio oder andere Unterhaltungseinrichtungen vermissen wir nicht, der Rundblick über den verglasten Dachrand bietet optisch mehr als viele seiner heutigen Artgenossen. Bei forcierter Fahrt erstirbt das Gespräch mit Fahrgästen ohnehin, denn der Motor singt bei höheren Drehzahlen im Verein mit der Hinterachse ein schaurig schräges Lied. Unser Weg führt über die pfälzische oder deutsche Weinstraße, entlang der Weinberge und durch malerische Dörfer, über diese Straßen wird der O 6600 H wohl etliche Male gerollt sein. Es sind 85 einzigartige Kilometer, links und rechts der „Deutschen Weinstraße“ reihen sich Burgen, Schlösser und Weinberge aneinander. Zu meinem Bedauern bleibt heute keine Zeit, die vielen Lokalitäten näher zu entdecken oder gar zu einer Weinprobe einzukehren.
Eile mit Weile: Heute gehören wir zur langsamen Fraktion
Wie der Brezel-Käfer damals hat auch der stattliche Mercedes-Bus mit seinem feinen Design an den Bushaltestellen die Blicke auf sich gezogen. Wie eben jetzt am Deutschen Weintor, dem Wendepunkt unserer Rundtour. Unser Oldtimer genießt sichtlich die Aufmerksamkeit am Parkplatz, ein historisches Fahrzeug an einem historischen Ort. Dann geht es zurück über die hügeligen Landstraßen der Pfalz, wo unser O 6600 H hin und wieder die kleinen Gänge verlangt. Rau aber herzlich dreht der 8,3 Liter große OM 315-Diesel, den sein Vorgängermodell noch unter einer langen Haube trug. Der Langhuber agiert überaus elastisch, fährt ohne Murren auch im vierten Gang um die Ecke. Braucht es aber Motorleistung, hilft nur die Drehzahl. So ist es auch kein Wunder, dass wir heute zu den Langsamen auf der Straße gehören. Aber so gönnen wir den nachfolgenden Fahrzeugen einen ausführlichen Blick aufs wohlgeformte Mercedes-Heck. Die Fahrgäste früher wussten diese Gangart noch zu schätzen, sie hatten genug Zeit, auf Ausflügen das schöne Panorama der Weinberge zu bewundern. Was dem Fahrer diesmal nicht gelang, schließlich hatte der alle Hände und Füße voll zu tun. Wenngleich die Abläufe und Handreichungen im Lauf des Tages immer flüssiger wurden, die Schalt- und Lenkarbeit klappte beinahe wie früher. Unsere Ausfahrt endete dort, wo alles begann. Unbeschadet für den wertvollen Oldie, der jetzt wieder im Mannheimer Auslieferzentrum glänzen darf. Zufrieden und doch etwas ermattet steige ich in den ICE und reise komfortabel nach Hause. Der raue Singsang des alten Mercedes-Busses hallt noch eine Weile nach in meinen Ohren.